‚Mathesis universalis’, griech.-lat. ‚universale Wissenschaft’ – die Idee einer alle formalen Wissenschaften übergreifenden ‚Einheitswissenschaft’, die im Wesentlichen auf René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz zurückgeht. In Abgrenzung zur etablierten philosophischen Terminologie formuliert Roland Barthes in „Die helle Kammer“ ein antagonistisches Modell der Erkenntnisgewinnung: die ‚mathesis singularis’ als Wissenschaft des Singulären, des Einzigartigen, als Einzelwissenschaft per definitionem, von der aus auf das Universale, das Allgemeine geschlossen werden kann.
‚Mathesis’, griech. μαθησις, bezeichnet ursprünglich das Erkennen, die Erkenntnis, das Erfahren sowie das Wissen. In der philosophischen Tradition wird der Begriff der ‚mathesis’ seit dem 17. Jahrhundert als allgemeine Bezeichnung für jede Wissenschaft, im Speziellen für die Mathematik verwendet – Gottfried Wilhelm Leibniz definiert jede mathematische Spezialdisziplin als ‚mathesis specialis’. Der Terminus ‚mathesis universalis’tritt nachweislich zum ersten Mal 1597 bei Adrianus Romanus auf, als Synonym zu einer ‚prima mathematica’, als eine mathematische Wissenschaft, die sich im Speziellen der Lehre der Quantitäten widmet.
René Descartes, Begründer der ‚neuzeitlichen’ Philosophie, knüpft in seinen „Regulae ad directionem ingenii“ (Regeln zur Leitung des Geistes) von 1628 erstmals an den Gedanken einer Universalmathematik, einer Universalwissenschaft an. Inspiriert durch die jüngst entstandenen algebraischen Methoden der Mathematik propagiert und betont Descartes hier die Einheit rationalen, vernunftgesteuerten Denkens. Aus der Einheitlichkeit und Allgemeingültigkeit der menschlichen Vernunft resultiert die Möglichkeit zur Vereinheitlichung, zur Zusammenführung alles menschenmöglichen Wissens – Descartes formuliert in seiner vierten Regel den Anspruch auf eine universelle Methode, mittels der es möglich sein soll, alle Einzelwissenschaften, die bis dato existieren, zu einem kohärenten Ganzen zusammenzufassen: die ‚mathesis universalis’ als eine „allgemeine Wissenschaft, die all das erklären wird, was der Ordnung und dem Maß unterworfen ist“. Die Betonung von „Ordnung und Maß“ impliziert jedoch keine Beschränkung auf rein mathematische Einzeldisziplinen, vielmehr fungiert das formale Regelwerk der Mathematik mit seiner Betonung von Grundsätzen wie Klarheit und Präzision als eine Art Ordnungsprinzip für Descartes: entscheidend werden exakt zu bemessende Relationen und proportionale Verhältnisse, unabhängig von der zu untersuchenden Materie. So bildet die Mathematik das Vorbild einer Methode des Erkenntnisgewinns, die sich nicht auf Zahlen oder Figuren beziehen muss, sondern vielmehr ohne Objektgebundenheit funktioniert, da sie nach dem universalen, statt dem singulären Zusammenhang strebt. Dieser beabsichtigte Erkenntnisgewinn vollzieht sich durch zwei zentrale Instanzen: den intuitus, den Intellekt, sowie die deductio, die Methode des logischen Schlussfolgerns, die in ihrem Zusammenspiel alle wissenschaftlichen Erscheinungen zu einem großen Ganzen synthetisieren.
Im Anschluss an René Descartes erweitert Gottfried Wilhelm Leibniz, Vertreter des Rationalismus, die Idee einer Universalwissenschaft. Auf der Basis einer ‚characteristica universalis’, einer universell gültigen Wissenschaftssprache, sowie der Einbeziehung einer formalen Logik soll die ‚mathesis universalis’ (oder ‚scientia universalis’) Ableitungen und Begründungen aller wissenschaftlichen Sätze und Theoreme ermöglichen. Hierbei ist unter der universalen Charakteristik, die Leibniz bereits in seiner Frühschrift „Dissertatio de Arte combinatoria“ von 1666 konzipiert, keine schriftlich fixierte, vormals gesprochene Sprache zu verstehen, sondern eine für alle Wissensgebiete verbindliche Symbolik, die nach mathematischem und naturwissenschaftlichem Vorbild konstruiert ist. So gilt es, Begriffe in Elementarteile zu zerlegen und sie in einem nächsten Schritt stellvertretend durch ein axiomatisches Zeichensystem zu ersetzen. Neben diesem primär deduktiven Verfahren soll es die formale Logik ermöglichen, theoretische Aussagen argumentativ zu begründen.
Die ‚mathesis universalis’, als philosophisches Konzept mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit und einen allumfassenden Geltungsbereich, lässt sich bei René Descartes wie auch Gottfried Wilhelm Leibniz als Versuch verstehen, mittels der Vereinigung aller wissenschaftlichen Teildisziplinen bzw. der Herausbildung einer formalisierten Wissenschaftssprache der Welterkenntnis näher zu kommen. An dieser Stelle soll auf die Neujustierung des Begriffspaares hin zur ‚mathesis singularis’ in Roland Barthes’ „Die helle Kammer“ eingegangen werden:
„..warum sollte nicht etwas wie eine neue Wissenschaft möglich sein, die jeweils vom einzelnen Gegenstand ausginge? Eine mathesis singularis (und nicht mehr universalis)? Ich übernahm mithin die Rolle eines Vermittlers der Photographie in ihrer Gesamtheit: ich würde den Versuch wagen, auf der Basis von ein paar persönlichen Gefühlen die Grundzüge, das Universale, ohne das es keine Photographie gäbe, zu formulieren.“ (S.16-17)
Die Übertragung des wissenschaftstheoretischen Begriffspaares der ‚mathesis universalis’ auf den Gegenstandsbereich der Fotografie, das heißt auf Roland Barthes’ Denken über die Wesenhaftigkeit der Fotografie bedeutet hier eine subjektivistische Indienstnahme eines Theorems, das selbst nichts als objektive Erkenntnis liefern möchte. Die ‚mathesis singularis’ findet ihren Ursprung, ihren Ausgang in der subjektiven Haltung Roland Barthes’ zu einer Sammlung an subjektiv zusammengestellten Fotografien – die daraus resultierende Dialektik aus der Bezugnahme auf theoretisch-objektivierte Begrifflichkeiten auf der einen Seite sowie die Instrumentalisierung eben dieser Begrifflichkeiten für persönliche Zwecke auf der anderen Seite konstituiert das zweischneidige Verhältnis, das „Die helle Kammer“ zu Wissenschaft und Literatur zugleich macht.
Die ‚mathesis singularis’ fungiert bei Roland Barthes als theoretische Fundierung seiner ich-zentrierten, auf Einzigartigkeit abzielenden Untersuchung über die Fotografie, die nicht von der Allheit und Zusammengehörigkeit aller wissenschaftlichen Teildisziplinen ausgeht, sondern bewusst den singulären Zugang sucht, um von dort aus „das Universale […] zu formulieren“ (S. 17). „Nichts von einem Korpus: nur einige Körper.“ (S. 16) – Roland Barthes beschließt, nur von einigen wenigen Fotografien auszugehen, um die von ihm beklagte „Unordnung“ (S. 16), die den bisherigen Stand der Fotografietheorie kennzeichnet, zu kompensieren. Diese bewusst gegenläufige Denkbewegung in Abgrenzung zu René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz spiegelt einmal mehr die programmatische Abkehr Barthes’ von etablierten Theoriegerüsten. Der Begriff der ‚mathesis universalis’ wird aufgegriffen, um sogleich widerlegt und abgewandelt zu werden – der Begriff des studiums als Repräsentant der wissenschaftlichen Betrachtungsweise von Fotografien wird eingeführt, jedoch dem persönlich gehaltenen, daher schwer revidierbaren Begriff des punctums untergeordnet.
So lässt sich die ‚mathesis singularis’ als ein Versuch verstehen, für das Feld der Fotografie eine neue Wissenschaft zu ermöglichen, eine Wissenschaft, die vom einzelnen Gegenstand, vom Unikat ausgeht und die subjektiven Einflüsse des dahinterstehenden Theoretikers gar nicht erst zu negieren versucht. Roland Barthes wird so zum Vermittler zwischen den ausgewählten Fotografien (an dieser Stelle sei auf die besondere Bedeutung verwiesen, die einer singulären Fotografie der verstorbenen Mutter zukommt) und einer Fotografietheorie „in ihrer Gesamtheit“ (S. 17).
Literatur:
Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989, S. 16-17.
Halbfaß, Wilhelm: Regulae ad directionem ingenii, In: Jens, Walter (Hg.): Kindlers Neues Literatur Lexikon, Band 4, Frechen: Komet Verlag, 1998, S. 594-595.
Kauppi, Raili: Mathesis universalis, In: Gründer, Karlfried/Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5, Basel, Stuttgart: Schwabe Verlag, 1980, S. 937.
Poser, Hans: Gottfried Wilhelm Leibniz, In: Volpi, Franco (Hg.): Großes Werklexikon der Philosophie, Band 2, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1999, S. 890-902.
Thiel, Christian: Mathesis universalis, In: Mittelstraß, Jürgen (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 2, Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler, 1995, S. 810-811.
Thiel, Christian: Mathesis, In: Mittelstraß, Jürgen (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 2, Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler, 1995, S. 810.