Das (oder auch der) aus Japan stammende Haiku ist die kürzeste literarische Gedichtform und besteht aus drei Zeilen mit 5, 7, und 5 Silben. Entstanden ist es aus dem sogenannten „renga“, in dem sich zwei Parteien in einem Spiel bzw. Wettstreit spontan zu einem vorgegebenen Thema Gedichte aus zwei Strophen mit insgesamt 31 Silben (5-7-5 und 7-7) ausdenken mussten. Übersetzungen dieser Art von Gedichten aus dem japanischen Original können sich normalerweise nicht an die Silbeneinteilung halten, da die japanische Sprache verglichen mit den in Europa verbreiteten Sprachen zu verschieden aufgebaut ist. Um den Inhalt nicht zu verändern, muss man also die strikte 5-7-5-Einteilung verlassen. Roland Barthes konnte Übersetzungen gerade wegen der sprachlichen (Bedeutungs-)Differenzen generell nicht gutheißen, verwendete sie jedoch in seinen Vorlesungen über das Haiku, die in „Die Vorbereitung des Romans“ schriftlich vorliegen.
Der größte Haiku-Dichter, der auch als Meister des Haiku bezeichnet wird, war der im 17. Jahrhundert lebende Bashô, der auch die Blütezeit des Haiku einleitete. Zuvor war diese Form lediglich für persönliche Briefe benutzt worden.
Das Genre des Haiku wurde lange Zeit mit patriotischer und auch fremdenfeindlicher Lyrik assoziiert, was dazu führte, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs jene Poeten in eine Krise stürzten, die sich dieser Kunst verschrieben hatten. Kritiker wiesen zudem darauf hin, dass man die doch bereits tote Poesie aufgeben solle und eine Unterscheidung zwischen Amateuren und professionellen Lyrikern in diesem Genre gar nicht möglich sei. Darauf wurde mit neuen Typen des Haiku, die politisch und ideologisch situierte Themen enthielten, geantwortet. Es war ein Versuch, das Haiku als seriöses künstlerisches Ausdrucksmittel wiederzubeleben. Jüngste Trends verzeichnen auch ein wachsendes Interesse am mittelalterlichen Ursprung dieser Gedichtform.
Heute ist das Haiku in Japan in sämtlichen sozialen Schichten verbreitet, neben zahlreichen Zeitschriften und Preisen gibt es sogar eigene Haiku-Schulen. Wie Roland Barthes es sehr treffend beschreibt, ist das Schreiben in der kürzesten literarischen Form zu einer Art Nationalsport der Japaner geworden.
Im Bereich des Zen (auch „Zen-Buddhismus“) gilt das Haiku als dessen literarischer Zweig, in dem es darum geht, die Sprache anzuhalten, sie durch das Lesen und Vortragen des Haiku in der Schwebe zu halten, anstatt sie zu provozieren. Der Augenblick, in dem die Sprache endet, ist Grundlage der knappen, leeren Form des Haiku und der Wahrheit des Zen insgesamt. Der sprachfreie Zustand wird dabei als Befreiung vom sekundären Denken (dem Denken über das Denken) angesehen, da dieses im Buddhismus als Blockade gilt. Gleichzeitig bildet das Haiku den Ausgangspunkt des unendlichen Sprechens: es ist kurz, aber nicht endlich, nicht geschlossen. Mit wenig an Sprache wird im Haiku das erreicht, was die Sprache selbst nicht kann: die Sache selbst hervorzurufen (s.u.: Realitätseffekt). Dabei bewegt es sich stets an der Schwelle zum Nichts des Sagens. Eine Entwicklung wird in ihm nicht nur abgelehnt, sie ist aufgrund der Form auch nicht möglich. Darin ähneln sich Haiku und Photographie: beide lassen sich nicht entwickeln, alles ist bereits da, es entsteht eine lebendige Unbeweglichkeit, in der keine Möglichkeit der rhetorischen Expansion vorhanden ist.
Worum es im Haiku nicht geht, ist der möglichst präzise Ausdruck, das Hineinzwängen von viel Inhalt in diese kurze literarische Form. Vielmehr handelt es sich beim Haiku um ein kurzes Ereignis, einen durch die anti-deskriptive Eigenschaft des Dreizeilers unfassbaren Augenblick. Weder mit Gott noch mit einem Subjekt verbunden geht es – wie auch beim Satori – darum, von der Sache selbst als Ereignis ergriffen zu sein, diesem einen unter vielen bloßen Fragmenten, die die Gesamtheit der Haikus bilden, gleich einem Geschmeide, in dem jedes Juwel alle übrigen reflektiert, ohne dass es ein Zentrum gibt, wie es Barthes selbst beschreibt.
Was Roland Barthes in seinen Werken über das Haiku sagt, bezieht er nicht nur auf das Gedicht, sondern auf alles, was sich um ihn herum (er bezieht sich hier auf Japan) ereignet. Es geht um kleinste, alltägliche Gesten und Ereignisse, die im Moment ihres „Lesens“ aufleuchten und den eigentlichen Stoff des Haiku bilden. Dessen vorgegebene Form wird also – ebenso wie die Amateurphotographie, für die Barthes sich besonders interessiert – mit Kleinigkeiten, mit Alltäglichem gefüllt.
Im Haiku ist dabei immer ein Subjekt gegenwärtig: ein Ich, das sich unverstellt äußert und sich selbst ins Bild setzt, ein Ich, das diesem „Ereignis beiwohnt“, ohne dass dieses Ich notwendigerweise erwähnt wird.
Das Haiku soll durch einen vollkommen lesbaren Diskurs vom Sinn befreit werden: es ist für uns lesbar, also halten wir es für poetisch; da es aber bedeutungslos (alltäglich) ist, leistet es dem Leser Widerstand und tritt somit einen Schwebezustand des Sinns (vgl. Satori), in dem ein Kommentar unmöglich wird. Ähnliches erklärte Barthes in seiner Vorlesung zu Proust, die sich wiederum in „Die Vorbereitung des Romans“ findet: hier sprach er davon, die gezeigten Photos lediglich durchzublättern, sie nicht zu kommentieren. Haikus sind, ähnlich der Photographie, „Züge“ im Sinne von leichten Schnitten in die Zeit, sie bilden eine Schau (vgl. Satori) ohne kommentiert zu werden. So wird der Sinn durch die Technik des Haiku angehalten. Einige Zen-Schulen lehren, dass es beim sitzen bleiben (Zazen = Sitzen in Versunkenheit) darum gehe, zu sitzen um des Sitzens willen. Barthes überträgt dies auf das Haiku und schlägt vor, Haikus zu schreiben, einfach um des Schreibens willen. Aus diesem Grund löst das Haiku die Funktionen der Definition und der Beschreibung auf, um sich vor dem Einbruch des Sinns zu bewahren.
Für Barthes ist das Haiku als diskontinuierlicher „Zug“ schließlich nicht nur das Gedicht selbst, sondern jedes kleinste Ereignis im (japanischen) Leben, und stellt damit ein Element des wirklichen und gegenwärtigen Lebens dar, ohne dabei jedoch klassifiziert werden zu können. Lediglich eine traditionelle Art der Klassifikation gibt es: die Klassifizierung nach den vier Jahreszeiten, von denen jeweils eine in den älteren Haikus stets vorkommen musste.
Weiterhin beschreibt Roland Barthes das Haiku als ein Wort, das ohne Interpunktion von sich aus funktioniert, betont dabei aber auch die Wichtigkeit der Verteilung der Verse auf der Seite und die dadurch entstehenden Zwischenräume. Zudem darf ein Haiku keine Pointe und auch keine Narration enthalten, möchte es die Leere bewahren und jenseits des Sinns verbleiben.
Die Tendenz, aus allem einen Sinn herauslesen zu müssen, ist besonders westlichen Menschen eigen. Im Haiku geht es aber gerade darum, ihm keinen Sinn beizulegen.[1] Hierfür soll man es mehrmals lesen oder laut aussprechen (ursprünglich wurden Haikus immer gesprochen bzw. vorgetragen) und ähnlich der Meditation über das Haiku nachdenken, damit der Überraschung eben kein Sinn zugesprochen wird. Es gibt lediglich einen Blitz – vergleichbar dem punctum in der Photographie – der erleuchtet (vgl. Satori), aber dabei nichts enthüllt, wie die Zeigegeste eines Kindes, das mit dem Finger auf etwas deutet und „Das da!“ sagt. Nichts besonderes also. Dabei lässt das Haiku die Sprache zugunsten einer Realitätsgewissheit verlöschen, ruft also einen Wirklichkeitseffekt („Es-ist-so-gewesen“) hervor. Unter der Behauptung, dass das Haiku dem Noema der Photographie, also deren Denkinhalt, sehr nahe kommt, kann man sagen, dass das Haiku Wörter im Sinne einer heterogenen Materie durch Verarbeitung vertrauenswürdig macht und so den o.g. Realitätseffekt gleich jenem in der Photographie erzeugt: was es sagt scheint also wirklich stattgefunden zu haben. Dabei wird nicht nur das lebendige Geschehen, so wie es einmal gewesen zu sein scheint (bzw. wirklich war, wenn man es auf die Photographie anwendet), verdeutlicht, sondern auch die Form der Aufhebung: im Falle des Haiku die Worte in der 5-7-5-Form, im Falle der Photographie das (materielle) Bild. Anders als das Haiku ist die Photographie jedoch dazu gezwungen, ausnahmslos alles zu sagen, jedes Detail mit aufzuzeigen, nichts auszusparen.
Für Roland Barthes bildet das Haiku das höchste Gut des Schreibens und somit auch der Welt, da beide nicht voneinander zu lösen sind. Wie auch bei der Photographie kann er meist nicht genau sagen, warum ihm ein Haiku gefällt und ein anderes nicht, was ihn also ganz persönlich daran besticht – ein Haiku gefällt nicht zwangsläufig jedem. Um erklären zu können, wann ein Haiku als „gut“ bezeichnet werden kann, muss er wie auch im Bereich der Photographie sich selbst als Maß einsetzen und sich an einer mathesis singularis versuchen.
[1] Mir persönlich stellt sich dabei die Frage, ob es dann überhaupt legitim ist, Haikus zu übersetzen. Zwingt man ihnen dann nicht einen Sinn auf, da sie auf gewisse Art aus ihrer eigentlichen Form geholt werden, gleich ob man sich an das 5-7-5-Schema hält oder nicht?
Quellen:
- Barthes, Roland, 1981: Das Reich der Zeichen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Barthes, Roland, 1989: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Barthes, Roland, 2008: Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Buckley, Sandra [Hg.], 2002: Encyclopedia of contemporary Japanese culture, London [u. a.]: Routledge.
- Schlüter, Christiane [Hg.], 2006: Fernöstliche Meditation, Bindlach: Gondrom.