Metonymie

Laut Meyers Konversationslexikon von 1906 stammt der Begriff aus dem Griechischen und bedeutet Namensvertauschung. Weiter wird der Begriff dort beschrieben als eine

lexikon

rhetorische Figur, die für einen Gegenstand einen anderen setzt, nicht aufgrund der zwischen beiden Gegenständen obwaltenden Ähnlichkeit (darin besteht das Wesen der Metapher), sondern aufgrunde der nahen und der sich leicht aufdrängenden sachlichen Beziehung, indem beide zueinander stehen. So setzt die M. den Ort statt dessen, was in ihm sich findet, sie vertauscht die Ursachen mit der Wirkung, das Zeichen mit dem Bezeichneten.“

Im BI Universallexikon von 1986 findet man unter dem Begriff zunächst wieder den griechischen Ursprung, diesmal mit dem Wort „Umbenennung“ übersetzt. Weiter steht dort:

BI lexikon

Stilistik: Bezeichungsübertragung aufgrund räumlicher, zeitlicher oder ursächlicher Beziehung. z.B. der Saal tobt.“

Barthes benutzt im 19. Kapitel seines Buches Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie das Wort als Adjektiv, also metonymisch. Er setzt dessen Bedeutung als gegeben voraus und verwendet es ohne weitere kritische oder erklärende Ausführungen. Genau hierin besteht der Grund, warum ich die Begriffserklärung aus den oben genannten Lexika entnommen habe und nicht etwa aus einer üblichen aktuellen Quelle. Dies ist meiner Frage geschuldet, auf welche Zeit und somit auf welche übliche begriffliche Erklärung und welches damit verbundene Verständnis eines Begriffes sich Barthes gestützt haben könnte. Ich halte es für entscheidend zu wissen, in welcher Zeit ein Begriff und seine Nutzung geprägt wurde und welches Gedankengut beziehungsweise welche Weltanschauung damit einhergeht. Entsprechend habe ich die Methode mich diesem Begriff zu nähern angepasst. Da Barthes auf Benjamin verweist, hielt ich es für hilfreich ein Lexikon aus dessen Zeit zu befragen. Die zweite Quelle soll einen Vergleich ermöglichen, indem sie aufzeigt, wie der Begriff zur Zeit Barthes beschrieben wurde. Auffällig hierbei ist zunächst die verkürzte und auch vereinfachte Erklärung. Es schwingt nicht zuletzt durch die Art der Schreibweise eine andere Begriffswelt mit, gleichwohl sich die Bedeutung oberflächlich nicht verändert hat (beide beziehen sich auf den griechischen Ursprung etc.). Der Eintrag von 1906 lässt meiner Meinung nach mehr Spiel für Interpretation und Reflexion zu. Besonders deutlich wird dies anhand der Wendung über das Vertauschen von Zeichen und Bezeichnetem. Diese allein eröffnet einen eigenen Diskursraum in der Philosophie, wie zum Beispiel Edmund Runggaldier zeigt.

Quellen:

Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1989

BI Universal- Lexikon, VEB Bibliographisches Institut, Leipzig, 1986

Meyers großes Konversationslexikon, VEB Bibliographisches Institut, Leipzig, 1906

Weiterführende Literatur:

Runggaldier, Edmund, Zeichen und Bezeichnetes : sprachphilosophische Untersuchung zum Problem der Referenz, de Gruyter, Berlin, 1985

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentar hinterlassen

Fotogramm

Ein Fotogramm lässt sich allgemein als eine kameralose Fotografie beschreiben. Das heißt die Instanz zwischen dem zu fotografierenden Motiv/dem Referenten und dem fotochemischen Material (Film, Fotopapier), die Kamera mit Objektiv, Spiegel usw., fällt weg. Stattdessen wird das Fotopapier direkt einer Lichtquelle ausgesetzt und reagiert, belichtete Bereiche des Papiers färben sich schwarz, unbelichtete Bereiche bleiben weiß. Gegenstände, die direkt auf das Papier gelegt werden bilden sich also weiß auf schwarz ab, durchscheinende Gegenstände wie Gläser bilden sich in Grautönen ab. Die Licht- bzw. Helligkeitsverhältnisse stellen sich also unrealistisch dar, da nicht wie bei Kamerafotografie mit Negativen gearbeitet wird.
Zeitlich liegt die Entstehung des Fotogramms logischerweise vor der Kamerafotografie. Man kann Fotogramme als Vorläufer bezeichnen, die die Grundlage für die Weiterentwicklung zur Fotografie mit Negativen und Kamera bilden. Dies ist wohl auch der Grund dafür, dass die frühen Fotografen des 19. Jahrhunderts sich zunächst gar nicht weiter für das Fotogramm interessiert haben. Verwendung fand es hauptsächlich in der Naturwissenschaft, da es die Möglichkeit bot, sehr genaue Abbildungen von z.B. Pflanzenteilen herzustellen.In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Fotogramm dann von einigen Malern entdeckt und aufgegriffen. Im Gegensatz zur Fotografie war das Fotogramm aufgrund seiner nicht an die Realität gebundenen Abbildungen von Interesse, gerade bei Künstlern die sich in Kreisen des Surrealismus, Dadaismus und Konstruktivismus bewegten. Als wichtigste Künstler sind hier Christian Schad, Man Ray und László Moholy-Nagy. Hier ist noch anzumerken, dass der Begriff Fotogramm sich erst mit der Zeit entwickelte und es etliche „Eigenkreationen“ an Namen gibt, wie zum Beipsiel „Schadographie“ oder „Rayographie“.Das Fotogramm nimmt als Bereich der Fotografie also eine Sonderstellung ein, da es hier erstmals den Zugriff von Malern auf diese gibt, während die realistisch abbildende Fotografie von vielen Malern sehr kritisch betrachtet wurde.

Da nun das Fotogramm und sein Hintergrund, seine Herkunft geklärt ist, bleibt die Frage, was Roland Barthes mit ihm verbindet und weshalb er sich darauf bezieht. Erwähnt wird das Fotogramm lediglich in einem einzigen Nebensatz auf S. 66 von Die helle Kammer. Der ganze Sinnabschnitt , beginnend auf S. 65 lautet:

„Füge ich auch dem Bild des Films etwas hinzu? Ich glaube nicht; dafür bleibt mir keine Zeit: vor der Leinwand kann ich mir nicht die Freiheit nehmen, die Augen zu schließen, weil ich sonst, wenn ich sie wieder öffnete, nicht mehr dasselbe Bild vorfände; ich bin zu ständiger Gefräßigkeit gezwungen; eine Menge anderer Eigenschaften sind im Spiel, doch nicht Nachdenklichkeit; daher mein Interesse für das Photogramm.“

Barthes impliziert hier, dass das Fotogramm für ihn mit Nachdenklichkeit verbunden ist. Dies passt dazu, dass das Fotogramm an sich ein sehr statisches Bild ist, quasi im Gegensatz zum schnellen Film steht. Es können keine realistischen Details abgebildet werden sondern man sieht mehr eine Ansammlung von unterschiedlich hellen oder dunklen Formen, Umrissen und Schatten. Eine Annahme meinerseits ist, dass das Fotogramm insofern „nachdenklich“ sein könnte, dass es durch abstrakte Abbildungen sehr viel Interpretationsspielraum hergibt. Interessant fände ich zu wissen, was Barthes in einem Fotogramm beispielsweise als Punctum ansieht, da er sich bisher immer nur auf realistische Fotografien bezogen hat. In diesem Zusammenhang finde ich interessant, was Floris M. Neusüss in seinem Text „Laszlo Moholy-Nagy – Fotogramme“ auf S. 130 von Das Fotogramm in der Kunst des 20. Jahrunderts schreibt:

„Die Wirkung des durch Objekte geformten Lichts auf das lichtempfindliche Material bleibt solange unsichtbar, bis das Fotopapier entwickelt ist. Sichtbar gemacht, überträgt sie sich auf die Retina des Betrachters und wird dort als „primäres“, d.h. Nicht vermitteltes, sondern unmittelbares, direktes Ereignis erlebt.“

Die Direktheit und „Reinheit“ des Ereignisses bildet hier meiner Meinung nach einen Ankmüpfungspunkt an die Diskussion um das Punctum.
Ein weiterer zu diskutierender Punkt im Zusammenhang mit dem Fotogramm ist die Frage nach der Beziehung von Bild und Referent und damit die Frage, ob Ikonizität in Fotogrammen überhaupt vorhanden ist.

 

Quellen:

Barthes, Roland, 1989. Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 65.

Neusüss, Floris M., 1990. Das Fotogramm in der Kunst des 20. Jahrhunderts: die andere Siete der Bilder – Fotografie ohne Kamera. Köln: DuMont. S. 9-19 u. S. 128-134.

Veröffentlicht unter Uncategorized | Verschlagwortet mit , , | Kommentar hinterlassen

ORPHEUS

Orpheus „der Dunkle“ (Abenstein 2012, S. 165), berühmter Sänger und Dichter der griechischen Mythologie, Sohn von Oiagros und Kalliope. Der Sage nach soll Apollon selbst ihm das Spiel auf der Leier beigebracht haben. Er gilt als Repräsentant für die Macht der Musik, denn er konnte mit der Kraft seiner Musik „Alles bislang Aufgeregte“ (Abenstein 2012, S. 166) zur Ruhe bringen. Felsen, Steine, sogar ganze Gebirge konnte er in Bewegung versetzen. Auch Tiere und Menschen waren von seiner Musik betört und verzaubert (vgl. Abenstein 2012, S. 166; Borderson, Zimmermann 2006, S. 433-434).

Der Mythologie zufolge nimmt Orpheus an der Fahrt der Argonauten teil und stiftet während der Reise mit der Kraft seiner Musik Frieden zwischen den Männern, gibt den Takt für die Ruderer vor und beruhigt die aufgewühlte See (vgl. Tripp 1991, S. 397). In Kolchis angekommen hilft der den Argonauten beim Raub des Vlies. Er übertönt mit seiner Musik die lockenden Töne der Sirenen und singt das Ungeheuer, welches den Schatz hütet in den Schlaf (vgl. Broderson, Zimmermann 2006, S. 397).

Zurück von der Reise heiratet er die Nymphe Eurydike. Dieser wird von einem Verehrer nachgestellt. Bei der Flucht vor ihm tritt sie auf eine Schlange, an deren Biss sie kurz darauf verstirbt (vgl. Tripp 1991, S. 397-398). Orpheus durch diesen Tod in tiefe Trauer gestürzt, versucht seine Frau aus der Unterwelt zu erretten. In der Unterwelt vertraut er ganz auf die Kraft seiner Musik. Er betört auf diese Weise die Totenrichter (vgl. Broderson und Zimmermann 2006, S. 433-434), die unter der Bedingung, dass Orpheus Eurydike auf dem Weg aus der Unterwelt nicht anblicken darf, einwilligen Eurydike aus der Unterwelt zu entlassen. Kurz vor dem Ausgang aus der Unterwelt jedoch dreht Orpheus sich nach Eurydike um und bricht somit die Vereinbarung. Sofort wird Eurydike wieder in die Unterwelt zurückgebracht und Orpheus verliert sie nun für immer an die Toten (vgl. Broderson, Zimmermann 2006, S. 433-434).

Verschiedene Überlieferungen behandeln Orpheus Tod. Nach Aischylos wird er von den Mänaden zerrissen, da er sich von Dionysos abgewandt hat, eine andere Sage beschreibt, dass er nach dem Tode Eurydikes zum Frauenhasser wird und ihn daraufhin thrakische Frauen zerreißen. Sein Kopf treibt der Sage nach auf die Insel Lesbos, deren Bewohnerinnen, die Musen ihn begraben (vgl. Broderson, Zimmermann 2006, S. 433-434).

„In der literarischen Tradition wird Orpheus zum Sinnbild der Kraft der Musik“ (Broderson , Zimmermann 2006, S.433-434). Außerdem gilt er als Religionsstifter und wieder andere sehen in ihm den Erfinder des ältesten Versmaßes, des Hexameters, und den Begründer der Schrift (vgl. Abenstein 2012, S. 166).

In Roland Barthes „Die helle Kammer“ wird Orpheus in Verbindung mit dem >Zweiten Gesicht< des Photographen gesetzt. Dieses >Zweite Gesicht< beruht nicht darauf, dass der Photograph sieht, sondern an welchem besonderen Ort er sich befindet (vgl. Barthes 1989, S. 57). Und das der Photograph auf seine Intuition, sein Gefühl vertraut, sich nicht von den Gegebenheiten mit eigenem Auge überzeugen muss, so wie Orpheus sich in der Sage seinem Zweifel ergibt und sich umschaut. Dieses >Zweite Gesicht< nach Barthes macht eben jenes „bestimmte Detail“ (Barthes 1989, S. 57) eines Photos aus. Orpheus kann den Tod besiegen, solange er seine Eurydike nicht anschaut, was er nicht schafft. Er muss sich mit dem „Blick“ überzeugen, dass Eurydike noch da ist, er verlässt sich nicht auf sein >Zweites Gesicht<.

Quellen:

1. Broderson; Zimmermann (Hrsg.) (2006): Orpheus. In: Metzler Lexikon Antike. J.B. Metzler, Stuttgart. S.433-434

2. Broderson; Zimmermann (Hrsg.) (2006): Orphik. In: Metzler Lexikon Antike. J.B. Metzler, Stuttgart. S.434

3. Broderson; Zimmermann (Hrsg.) (2006): Orphische Dichtung. In: Metzler Lexikon Antike. J.B. Metzler, Stuttgart. S. 434

4. Abenstein, Reiner (2012): Griechische Mythologie. Schöningh, Paderborn.

5. Tripp. Edward (1991): Reclams Lexikon der antiken Mytholgie. Reclam, Stuttgart S. 397-398

6. Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer (1. Auflage). Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentar hinterlassen

Haiku

Das (oder auch der) aus Japan stammende Haiku ist die kürzeste literarische Gedichtform und besteht aus drei Zeilen mit 5, 7, und 5 Silben. Entstanden ist es aus dem sogenannten „renga“, in dem sich zwei Parteien in einem Spiel bzw. Wettstreit spontan zu einem vorgegebenen Thema Gedichte aus zwei Strophen mit insgesamt 31 Silben (5-7-5 und 7-7) ausdenken mussten. Übersetzungen dieser Art von Gedichten aus dem japanischen Original können sich normalerweise nicht an die Silbeneinteilung halten, da die japanische Sprache verglichen mit den in Europa verbreiteten Sprachen zu verschieden aufgebaut ist. Um den Inhalt nicht zu verändern, muss man also die strikte 5-7-5-Einteilung verlassen. Roland Barthes konnte Übersetzungen gerade wegen der sprachlichen (Bedeutungs-)Differenzen generell nicht gutheißen, verwendete sie jedoch in seinen Vorlesungen über das Haiku, die in „Die Vorbereitung des Romans“ schriftlich vorliegen.

Der größte Haiku-Dichter, der auch als Meister des Haiku bezeichnet wird, war der im 17. Jahrhundert lebende Bashô, der auch die Blütezeit des Haiku einleitete. Zuvor war diese Form lediglich für persönliche Briefe benutzt worden.

Das Genre des Haiku wurde lange Zeit mit patriotischer und auch fremdenfeindlicher Lyrik assoziiert, was dazu führte, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs jene Poeten in eine Krise stürzten, die sich dieser Kunst verschrieben hatten. Kritiker wiesen zudem darauf hin, dass man die doch bereits tote Poesie aufgeben solle und eine Unterscheidung zwischen Amateuren und professionellen Lyrikern in diesem Genre gar nicht möglich sei. Darauf wurde mit neuen Typen des Haiku, die politisch und ideologisch situierte Themen enthielten, geantwortet. Es war ein Versuch, das Haiku als seriöses künstlerisches Ausdrucksmittel wiederzubeleben. Jüngste Trends verzeichnen auch ein wachsendes Interesse am mittelalterlichen Ursprung dieser Gedichtform.

Heute ist das Haiku in Japan in sämtlichen sozialen Schichten verbreitet, neben zahlreichen Zeitschriften und Preisen gibt es sogar eigene Haiku-Schulen. Wie Roland Barthes es sehr treffend beschreibt, ist das Schreiben in der kürzesten literarischen Form zu einer Art Nationalsport der Japaner geworden.

Im Bereich des Zen (auch „Zen-Buddhismus“) gilt das Haiku als dessen literarischer Zweig, in dem es darum geht, die Sprache anzuhalten, sie durch das Lesen und Vortragen des Haiku in der Schwebe zu halten, anstatt sie zu provozieren. Der Augenblick, in dem die Sprache endet, ist Grundlage der knappen, leeren Form des Haiku und der Wahrheit des Zen insgesamt. Der sprachfreie Zustand wird dabei als Befreiung vom sekundären Denken (dem Denken über das Denken) angesehen, da dieses im Buddhismus als Blockade gilt. Gleichzeitig bildet das Haiku den Ausgangspunkt des unendlichen Sprechens: es ist kurz, aber nicht endlich, nicht geschlossen. Mit wenig an Sprache wird im Haiku das erreicht, was die Sprache selbst nicht kann: die Sache selbst hervorzurufen (s.u.: Realitätseffekt). Dabei bewegt es sich stets an der Schwelle zum Nichts des Sagens. Eine Entwicklung wird in ihm nicht nur abgelehnt, sie ist aufgrund der Form auch nicht möglich. Darin ähneln sich Haiku und Photographie: beide lassen sich nicht entwickeln, alles ist bereits da, es entsteht eine lebendige Unbeweglichkeit, in der keine Möglichkeit der rhetorischen Expansion vorhanden ist.

Worum es im Haiku nicht geht, ist der möglichst präzise Ausdruck, das Hineinzwängen von viel Inhalt in diese kurze literarische Form. Vielmehr handelt es sich beim Haiku um ein kurzes Ereignis, einen durch die anti-deskriptive Eigenschaft des Dreizeilers unfassbaren Augenblick. Weder mit Gott noch mit einem Subjekt verbunden geht es – wie auch beim Satori – darum, von der Sache selbst als Ereignis ergriffen zu sein, diesem einen unter vielen bloßen Fragmenten, die die Gesamtheit der Haikus bilden, gleich einem Geschmeide, in dem jedes Juwel alle übrigen reflektiert, ohne dass es ein Zentrum gibt, wie es Barthes selbst beschreibt.

Was Roland Barthes in seinen Werken über das Haiku sagt, bezieht er nicht nur auf das Gedicht, sondern auf alles, was sich um ihn herum (er bezieht sich hier auf Japan) ereignet. Es geht um kleinste, alltägliche Gesten und Ereignisse, die im Moment ihres „Lesens“ aufleuchten und den eigentlichen Stoff des Haiku bilden. Dessen vorgegebene Form wird also – ebenso wie die Amateurphotographie, für die Barthes sich besonders interessiert – mit Kleinigkeiten, mit Alltäglichem gefüllt.

Im Haiku ist dabei immer ein Subjekt gegenwärtig: ein Ich, das sich unverstellt äußert und sich selbst ins Bild setzt, ein Ich, das diesem „Ereignis beiwohnt“, ohne dass dieses Ich notwendigerweise erwähnt wird.

Das Haiku soll durch einen vollkommen lesbaren Diskurs vom Sinn befreit werden: es ist für uns lesbar, also halten wir es für poetisch; da es aber bedeutungslos (alltäglich) ist, leistet es dem Leser Widerstand und tritt somit einen Schwebezustand des Sinns (vgl. Satori), in dem ein Kommentar unmöglich wird. Ähnliches erklärte Barthes in seiner Vorlesung zu Proust, die sich wiederum in „Die Vorbereitung des Romans“ findet: hier sprach er davon, die gezeigten Photos lediglich durchzublättern, sie nicht zu kommentieren. Haikus sind, ähnlich der Photographie, „Züge“ im Sinne von leichten Schnitten in die Zeit, sie bilden eine Schau (vgl. Satori) ohne kommentiert zu werden. So wird der Sinn durch die Technik des Haiku angehalten. Einige Zen-Schulen lehren, dass es beim sitzen bleiben (Zazen = Sitzen in Versunkenheit) darum gehe, zu sitzen um des Sitzens willen. Barthes überträgt dies auf das Haiku und schlägt vor, Haikus zu schreiben, einfach um des Schreibens willen. Aus diesem Grund löst das Haiku die Funktionen der Definition und der Beschreibung auf, um sich vor dem Einbruch des Sinns zu bewahren.

Für Barthes ist das Haiku als diskontinuierlicher „Zug“ schließlich nicht nur das Gedicht selbst, sondern jedes kleinste Ereignis im (japanischen) Leben, und stellt damit ein Element des wirklichen und gegenwärtigen Lebens dar, ohne dabei jedoch klassifiziert werden zu können. Lediglich eine traditionelle Art der Klassifikation gibt es: die Klassifizierung nach den vier Jahreszeiten, von denen jeweils eine in den älteren Haikus stets vorkommen musste.

Weiterhin beschreibt Roland Barthes das Haiku als ein Wort, das ohne Interpunktion von sich aus funktioniert, betont dabei aber auch die Wichtigkeit der Verteilung der Verse auf der Seite und die dadurch entstehenden Zwischenräume. Zudem darf ein Haiku keine Pointe und auch keine Narration enthalten, möchte es die Leere bewahren und jenseits des Sinns verbleiben.

Die Tendenz, aus allem einen Sinn herauslesen zu müssen, ist besonders westlichen Menschen eigen. Im Haiku geht es aber gerade darum, ihm keinen Sinn beizulegen.[1] Hierfür soll man es mehrmals lesen oder laut aussprechen  (ursprünglich wurden Haikus immer gesprochen bzw. vorgetragen) und ähnlich der Meditation über das Haiku nachdenken, damit der Überraschung eben kein Sinn zugesprochen wird. Es gibt lediglich einen Blitz – vergleichbar dem punctum in der Photographie – der erleuchtet (vgl. Satori), aber dabei nichts enthüllt, wie die Zeigegeste eines Kindes, das mit dem Finger auf etwas deutet und „Das da!“ sagt. Nichts besonderes also. Dabei lässt das Haiku die Sprache zugunsten einer Realitätsgewissheit verlöschen, ruft also einen Wirklichkeitseffekt („Es-ist-so-gewesen“) hervor. Unter der Behauptung, dass das Haiku dem Noema der Photographie, also deren Denkinhalt, sehr nahe kommt, kann man sagen, dass das Haiku Wörter im Sinne einer heterogenen Materie durch Verarbeitung vertrauenswürdig macht und so den o.g. Realitätseffekt gleich jenem in der Photographie erzeugt: was es sagt scheint also wirklich stattgefunden zu haben. Dabei wird nicht nur das lebendige Geschehen, so wie es einmal gewesen zu sein scheint (bzw. wirklich war, wenn man es auf die Photographie anwendet), verdeutlicht, sondern auch die Form der Aufhebung: im Falle des Haiku die Worte in der 5-7-5-Form, im Falle der Photographie das (materielle) Bild. Anders als das Haiku ist die Photographie jedoch dazu gezwungen, ausnahmslos alles zu sagen, jedes Detail mit aufzuzeigen, nichts auszusparen.

Für Roland Barthes bildet das Haiku das höchste Gut des Schreibens und somit auch der Welt, da beide nicht voneinander zu lösen sind. Wie auch bei der Photographie kann er meist nicht genau sagen, warum ihm ein Haiku gefällt und ein anderes nicht, was ihn also ganz persönlich daran besticht – ein Haiku gefällt nicht zwangsläufig jedem. Um erklären zu können, wann ein Haiku als „gut“ bezeichnet werden kann, muss er wie auch im Bereich der Photographie sich selbst als Maß einsetzen und sich an einer mathesis singularis versuchen.


[1] Mir persönlich stellt sich dabei die Frage, ob es dann überhaupt legitim ist, Haikus zu übersetzen. Zwingt man ihnen dann nicht einen Sinn auf, da sie auf gewisse Art aus ihrer eigentlichen Form geholt werden, gleich ob man sich an das 5-7-5-Schema hält oder nicht?

Quellen:

  • Barthes, Roland, 1981: Das Reich der Zeichen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Barthes, Roland, 1989: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Barthes, Roland, 2008: Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Buckley, Sandra [Hg.], 2002: Encyclopedia of contemporary Japanese culture,  London [u. a.]: Routledge.
  • Schlüter, Christiane [Hg.], 2006: Fernöstliche Meditation, Bindlach: Gondrom.
Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentar hinterlassen

Satori

Das Satori aus dem japanischen Zen kann man am ehesten mit „Erleuchtung“ oder „Offenbarung“ übersetzen, wobei diese Begriffe stark christlich geprägt sind und nur vage das wiedergeben, was das Satori ausmacht. Ähnlich dem Haiku kann man darunter auch den „panischen Schwebezustand der Sprache“ verstehen, wie Roland Barthes es genannt hat. An anderer Stelle beschreibt er es auch als „Schau“. Eine eindeutige und unumstößliche Definition des Begriffs ist jedoch nicht möglich, da er generell etwas darstellt, was nur vom Individuum erfahren werden und nicht allumfassend beschrieben werden kann (darin ähnelt es wiederum dem Haiku, in dem Beschreibung und Definition aufgehoben werden). Den Versuch einer Definition wagt Barthes mit den Worten, dass das Satori als „ein kurzer Impuls, dessen Anstoß nicht in Träumereien abschweifen lässt“, definiert werden könne.

Den direktesten Weg zum Satori im Sinne der Erleuchtung stellt das Zazen, das Sitzen in Versunkenheit als zentrale Meditationsform im Zen, dar. Jedoch bleibt das Satori nicht auf meditative Praktiken beschränkt, sondern kann auf viele Bereiche ausgedehnt und angewendet werden.

In seinem Tagebuch der Trauer beschreibt Barthes das Satori als „mild, glücklich, als ob die Trauer sich besänftigte, […] sich vertiefte, ohne sich aufzuheben – als ob ‚man sich wiederfände‘.“ An anderer Stelle spricht er im Zusammenhang mit dem Satori von den fadings oder dem Flackern der Trauer als die Bestätigung einer radikalen Behauptung, also eine Erleuchtung (in) der Trauer.

Auf die Bedeutung der Photographie in Barthes‘ Werk „Die helle Kammer“ bezogen wird das Satori als eine „zeitweilige Leere“ (hier wieder der Zusammenhang mit dem sinnentleerenden Haiku) durch das klingelnde Etwas – das punctum, das eine Photographie für Barthes interessant und besonders macht – hervorgerufen.

Quellen:

  • Barthes, Roland, 1981: Das Reich der Zeichen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Barthes, Roland, 1989: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Barthes, Roland, 2010: Tagebuch der Trauer, München: Carl Hanser.
  • Buckley, Sandra [Hg.], 2002: Encyclopedia of contemporary Japanese culture,  London [u. a.]: Routledge.
  • Schlüter, Christiane [Hg.], 2006: Fernöstliche Meditation, Bindlach: Gondrom.
Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentar hinterlassen

Duane Michals, Andy Warhol, 1978

Michals_Warhol

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentar hinterlassen

André Kertész, Porträt Tristan Tzara, 1926

Kertezs_Tzara

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentar hinterlassen

LATENZ

Der Begriff LATENZ (von lateinisch: latens = verborgen) findet Verwendung in verschiedensten Gebieten. Die Latenzzeit im medizinischen Bereich beschreibt den Zeitraum zwischen Ansteckung und Ausbruch einer Krankeit, im elektrotechnischen Bereich beschreibt sie die Zeit, die ein Signal zum Durchlauf einer bestimmten Leitung benötigt. Gemein ist den zahlreichen Verwendungen des Begriffes LATENZ immer die Komponente der Verzögerung. Genauer definiert ist diese Verzögerung der Zeitraum zwischen einem verborgenen Ereignis und der folgenden sichtbaren Reaktion auf dieses.

Roland Barthes verwendet den Begriff LATENZ nun im Zusammenhang mit dem Auffinden des punctums. Das punctum als bestimmte Wirkung einer Fotografie, nicht ohne weiteres ortbar, sei häufig erst nach einer gewissen LATENZ auffindbar, sprich nach einer Verzögerung. Diese Verzögerung sei aber nicht das genaue Untersuchen der Fotografie, sondern das Wegschauen oder Augenschließen. Erst durch die visuelle Trennung vom Foto und die rein geistige Verarbeitung sei das punctum zuweilen zu erkennen. Der Zeitraum vom Weglegen der Fotografie, über das Nachdenken darüber bis zum Erkennen des punctums ist also die LATENZ.

Quellen:
Barthes, Roland, Die helle Kammer, Suhrkamp, 1989, 1. Auflage
Das moderne Fremdwörterlexikon, OSNABUCH Verlagsgesellschaft Krätzig mbH, Perlen Verlag München
http://de.wikipedia.org/wiki/Latenz (04. Dezember 2012)

Veröffentlicht unter Uncategorized | Verschlagwortet mit , , | Kommentar hinterlassen

Niepce, Blick aus dem Fenster (1826)

Veröffentlicht unter Uncategorized | 4 Kommentare

Koen Wessing, Nicaragua 1979

Veröffentlicht unter Uncategorized | 3 Kommentare