Hysterische Geschichte

Nach Roland Barthes ist Geschichte die Zeit, als wir noch nicht geboren waren. Um seinen Geschichtsbegriff näher zu erläutern, bezieht er sich auf ein Foto seiner Mutter aus dem Jahr 1913, also vor seiner Geburt. Barthes erkennt die Kleidung seiner Mutter nicht wieder, dadurch wird ihm sein Nichtvorhandensein bewusst. Die Vergänglichkeit der Moden und Stoffe bildet eine Parallele zu dem Text ‚Die Photografie'(1927) von Siegfried Kracauer. Er thematisiert die Zeitgebundenheit der Fotografie, die genau die der Mode entspricht: wenn sie nicht mehr zeitgenössisch ist, wird sie zu einem „Gemenge, das sich zum Teil aus Abfällen zusammensetzt.“¹
Barthes definiert sein Geschichtsbild im Folgenden näher. „Die Geschichte ist hysterisch: sie nimmt erst Gestalt an, wenn man sie betrachtet – und um sie zu betrachten, muß man davon ausgeschlossen sein.“² Das heißt auch, dass man über die Zeit, in der man lebt nichts aussagen kann. Barthes glaubt deshalb nicht an Zeitzeugen. Als lebendiges Wesen ist man das Gegenteil von Geschichte. Für ihn ist die Zeit, in der seine Mutter vor ihm lebte, Geschichte.
Das Leben der Mutter schließt die Spannung der Geschichte, ihre Abspaltung mit ein. Eine ähnliche Abspaltung findet sich auch in Sigmund Freuds Abhandlungen zur Hysterie.
Hysterisch stammt vom griechischen Begriff hysterikós (an der Gebärmutter leidend). Bereits in der Antike galt Hysterie als typische Frauenkrankheit.³
1862 forschte Jean-Martin Charcot an der Salpétrière in Paris, einem Krankenhaus hauptsächlich für Frauen. Seine Forschungen dort lösten eine ‚grande hystérie‘ aus;  die Hysterie wurde zu einer Modeerscheinung in der französischen Gesellschaft. Gründe dafür waren unter anderem die unterdrückte Sexualität der viktorianischen Frau, sowie das Aufblühen der Neurologie. Die Mechanismen dieser Erscheinung dokumentiert Georges Didi-Huberman in seinem Buch ‚Die Erfindung der Hysterie'(1982). Er entlarvt die Wiederentdeckung der Krankheit als Produkt des Einverständnisses  zwischen Medizinern und Patienten. „Ein wechselseitiger Reiz wurde errichtet zwischen Medizinern, die gierig waren auf Bilder der Hysterie, und Hysterischen, die voller Zustimmung in der Theatralität ihrer Körper überbordeten.“⁴ Dadurch entstand eine visualisierte Form von Krankheit.

Bilder einer Hysterischen (1890)

1892 bezieht sich Freud bei seiner Begründung der Psychoanalyse auf die Forschungen Charcots. Er greift dessen traumatische Bedingtheit der hysterischen Symptome auf. Die dissoziative Störung, wie er sie nennt, ist der „Umsetzungsprozess des von der verdrängten Vorstellung losgelösten Affekts in körperliche Symptome.“⁵ Die körperlichen Symptome sind folglich vom Trauma abgespalten. Der Verdrängende hat kein Bewusstsein vom Verdrängten. Nur ein Außenstehender kann das Verdrängte erkennen. Genauso kann bei Barthes nur der Ausgeschlossene die Geschichte betrachten.
An die Geschichte kann man sich also nicht erinnern. Eine Anamnese(Wiedererinnerung) kann nur selbst Erlebtes oder Wahrgenommenes ins Bewusstsein bringen. Die Erinnerung an bestimmte Gegenstände und sinnliche Wahrnehmungen kann dabei wichtiger als das Foto selbst sein. Wenn Barthes das Foto betrachtet, welches ihn auf dem Arm seiner Mutter zeigt, kann er den Duft des Reispuders und das Gefühl des Crêpe de Chine wachrufen.
In Fotos, die vor seiner Geburt entstanden sind, ist eine solche Anamnese nicht möglich. Um trotzdem den Kontakt zu diesen Bildern herzustellen, muss er darauf bestimmte Gegenstände wiederfinden, zu denen er einen persönlichen Bezug hat.

„Irritierende Kluft zwischen dem totalen Kitsch der Dramaturgie und der ernergischen Modernität der Proustschen Beschreibungen, ‚als ob er den Kitsch nicht sähe‘; je nun, eben das macht den Kitsch aus: daß man ihn niemals sieht, wenn man mittendrin ist; eine Art selektivere Hysterie.“⁶

Quellen:

[1] Kracauer, Siegfried(1927): Die Photografie. In: Das Ornament der Masse. Frankfurt a.M. Suhrkamp. S. 25
[2] Barthes, Roland(1985): Die helle Kammer. Frankfurt a.M. Suhrkamp. S. 75
[3] Duden Band 7(2001): Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. 3. Auflage. Mannheim. Dudenverlag.
[4] Didi-Huberman, Georges(1997): Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. München. Wilhelm Fink Verlag.
[5] Hrsg. Ritter, Joachim(1974): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3. Basel. Schwabe&Co.
[6] Barthes, Roland(2008): Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978-1979 und 1979-1980. Hrsg.: Marty, Éric. Frankfurt a.M. Suhrkamp. S. 489

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